Weggekommen

Zum 75. Jahrestag des Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein Wort, eine Erinnerung.

Sie sagte immer, „sie sind weggekommen“. Anfangs dachte ich, sie hätte mehrere Sachen verloren. So wie man einen Brief oder ein gesticktes Taschentuch verliert und sie hatte eine Menge von diesen gestickten Taschentüchern. Auf jeden Fall dachte ich zuerst an eine Sache, ein Ding, das man verliert. Ich hatte damals auch schon etwas verloren: eine weiße Strickjacke, die ich über dem Geländer unserer Grundschule habe hängen lassen. Mir war warm, ich habe sie ausgezogen, wir haben gespielt, dann kam der Bus … und die Jacke hing da noch. Später als ich den Verlust bemerkte, hing sie da nicht mehr. Ich bekam natürlich mächtig Ärger Zuhause. Teuer war sie wohl die Jacke.

Ja, das machte Sinn für mich. Etwas was teuer war, kommt weg und das ist dann schlimmer, als wenn etwas weniger teuer war und wegkommt. Ich hätte besser aufpassen müssen! Dabei mochte ich die Jacke. Ehrlich. Sie war mir bloß in dem Moment aus dem Sinn gekommen und dann war sie weggekommen. In dem Zusammenhang dachte ich an das Wort. Besonders schlimm muss es sein, wenn etwas wegkommt, was teuer war. Heute weiß ich es besser: untröstlich ist es, wenn jemand „wegkommt“, der einem teuer war.

Hannah, meine liebe Hannah, hat das Wort in einem Zusammenhang benutzt, der mich anfangs schon irritierte. Damals als wir uns trafen: ich das Grundschulmädchen und sie die feine ältere Dame aus der Wohnung gegenüber. Sie kam mir aber nie alt vor, nur die Zahlen ihres Alters erschienen mir unendlich weit weg von meinem eigenen. Immerhin noch einstellig!

Sie sagte, „sie ist weggekommen“ oder „er ist auch weggekommen“.

Am Anfang redete ich mir ein, dass es Hoffnung gibt, dass diese Dinge wiederkommen, dass man sie wiederfindet. Ich meine, wenn etwas wegkommt, dann ist es ja nur w o a n d e r s hingekommen. Es hat sozusagen nur den Ort gewechselt. Meine weiße Strickjacke, dachte ich, die hat niemand in die Mülltonne geworfen. Die war schön, aus gutem Material, eben was Teures, das konnte man schnell sehen. Jemand hat diese Jacke mitgenommen – für sich. Vielleicht hat er sie im Fundbüro abgegeben. Auf jeden Fall war ich mir sicher, dass diese Jacke nicht vernichtet worden ist. Sie existierte weiterhin. Sie war bloß weg – nicht mehr in meinem Besitz. Also wenn ich so an das Wort „weggekommen“ dachte, dann schwang da Leichtes mit. Etwas Trost, dass das Ding wiederauftaucht oder zumindest in neuen guten Händen ist.

So etwas meinte Hannah aber nicht, wenn sie sagte „sie sind weggekommen“. Ich begriff das allmählich. Sie sagte das einmal und schwieg dann. Ich spürte immer mehr, dass etwas Endgültiges darin lag. Da war keine Hoffnung auf ein Wiedersehen, da war kein Trost. Hannah meinte etwas, was ich mir nicht vorstellen konnte damals und sie wusste das und sagte nichts weiter. Es war ein Donnerschlag von einem Satz, der dann wieder verstummte, leise im Raum sich niederlegte. Dann wurde es immer klarer: Menschen sind „weggekommen“! Sehr viel später begriff ich dann, dass dieses „weggekommen“ viel zu still, leise ist. Das es eigentlich harmonisch und harmlos klingt.

Aber vielleicht war es genau das, warum Hannah bei diesem Begriff blieb. Ein Euphemismus, eine Beschönigung, um sich selbst zu schützen. Um den Gedanken wegzuschieben, wie grauenvoll sie und er und alle anderen starben. Um das Unfassbare nicht denken zu müssen. Dann lieber „weggekommen“ sagen, damit auch das eigene Gehirn vor zu viel Störfeuer, vor zu viel Grausamkeit geschützt ist. Auch einige von ihren Freunden aus der Zeit, die ich später traf, nutzten genau das gleiche Wort.

Tatsächlich habe ich im Laufe der Zeit festgestellt, dass nur ganz wenige und nur ganz bestimmte Menschen das Wort in dieser Weise benutzten. Genau deswegen konnte man anhand dieses Wortes eindeutig feststellen, zu welcher Gruppe der Sprecher gehörte. Wer immer auch von „weggekommen“ sprach, war eindeutig selbst einer oder eine von denen, die das Regime nicht hatte überleben lassen wollen. Niemals hätte ein Geschichtslehrer in meiner Schule, ein Wissenschaftler in einem Buch oder sonst jemand, der zum Thema der Menschenvernichtung sich äußerte, von „weggekommen“ gesprochen. Niemals, es sei denn, er war einer von denen, die auch „wegkommen“ sollten. So wie Hannah.

Hannah sagte „sie sind alle weggekommen“ und guckte so entrückt. Ich ahnte als kleines Kind, dass diese Erinnerung einen besonderen Einfluss auf sie, auf jeden Menschen haben muss. Sie war dann für einen Moment nicht hier, sie war bei dem Wort „weggekommen“ selbst hinweg genommen in eine andere Sphäre. Ich starrte sie an. Ich schaute Hannah immer ganz genau an, weil ich immer ganz genau zuhörte. Ich dachte, ich würde sonst vielleicht etwas Wesentliches verpassen. Aber wenn ich nachfragte, hörte sie mich nicht. Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich dachte, wenn sie mir nicht mehr sagen will, dann hat sie ihre Gründe. Vielleicht macht es sie einfach zu traurig. Hannah war gut zu mir. Ich wollte Hannah glücklich sehen und nicht traurig. Hannah war mir nah.

Heute vermisse ich dieses Wort. Denn es war und ist ein Hannah-Wort. Ich habe es immer nur bei ihr, von ihren Freunden oder natürlich von ihr gehört. Auch wenn eine dröhnende Traurigkeit im Raum lag, wenn sie das Wort sagte.  Ich würde es gerne noch einmal hören. Wenn sie es sagt. Ich würde Hannah gerne noch einmal hören. Vielleicht würde ich sie heute in den Arm nehmen. Aber vielleicht auch nicht. Sie wollte nicht getröstet werden, sie war geistig ganz weit weg in dem Moment –  nicht hier. Du kannst nicht jemanden trösten, der geistig nicht bei dir ist. Solltest du den umarmen, wird er dich vielleicht wegstoßen oder völlig überrascht, ungewöhnlich reagieren. Denn die Umarmung trifft ihn nicht in der Gegenwart, sondern die Berührung kommt zu ihm, in dem Moment, in dem er das sieht und fühlt, wovon er zuvor gesprochen hat. Wenn dieser Mensch „weggekommen“ zuvor gesagt hat, dann befindet er sich bei denen und in dem Moment als der Umstand zuschlug, der zum „weggekommen“ führte. Deswegen können keine tröstenden Worte ihn erreichen. Aber überhaupt, Hannah war nicht jemand, der sich trösten ließ.

Warum? Vielleicht gibt es auch dafür handfeste Gründe.

Man konnte Hannah nicht trösten, weil der Verlust und die erlebte Bedrohung zu enorm, zu allumfassend und zu überdimensional waren. So alles umfassend, dass diese Erfahrungen sich für immer einritzten, allumfassend blieben und sich später auch nicht mehr wegtrösten ließen. Ich glaube Hannah war traurig und wütend zugleich. Unversöhnlich wütend und verletzt. Sie war auch hart. Aber ich denke, das war ihr Charakter schon von Anfang an. Sie war eine Kämpferin, hart gegen sich und hart gegen andere. Womöglich waren das die Gründe, warum sie überlebte und dageblieben war.

Hannah ist jetzt vielleicht da, wo sie die findet, die „weggekommen“ sind. Das hängt von der Betrachtung ab, die man anstellt. Aber das Verrückte ist, dass irgendwie ihr Verlust auch auf mich übergegangen ist. Nicht nur mein Verlust, dass meine liebe alte Hannah nicht mehr da ist. Sondern der Verlust, an dem Hannah zu ihren Lebzeiten litt und den ich durch ihre Trauer miterlebte. So ist irgendwie ihre Trauer auch meine geworden.

Heute denke ich an Hannah und an die, die Hannah meinte, wenn sie sagte „die sind weggekommen“. Genau heute vor 75 Jahren war deren und Hannahs Martyrium zu Ende. Hannah hat überlebt. Hannah konnte ich treffen und kennenlernen. Die anderen habe ich nicht getroffen. Sie waren vorher schon „weggekommen“. Sechs Millionen Mal „weggekommen“.