Pessach im April 2019 sei seine größte Herausforderung, sagt Ilya Krumer. Seit letzten Juni betreut er die orthodoxe Gemeinde in Riga in der Peitav-Shul Synagoge.
Jüdisches Leben in Lettland konzentriert sich auf die Hauptstadt Riga. Nach der letzten Volkszählung gaben etwa 7000 Menschen in Lettland an, jüdischen Glaubens zu sein. In der einzigen Synagoge Rigas, die die Zerstörung in der Naziherrschaft überdauert hat, die Peitav-Shul Synagoge, kommen heute orthodoxe, liberale und Reformjuden zu den Feiertagen zusammen.
Rabbi Ilya Krumer ist eingesprungen, weil sein Vorgänger Rabbi Kalev Krelin aufgrund der angespannten Finanzsituation der Gemeinde nur noch in Teilzeit arbeite konnte. Krelin arbeite nun in Riga und in Moskau gleichzeitig. Da klaffte dann plötzlich eine Lücke für die Betreuung der jüdischen Gemeinde in Riga und so sah sich Ilya Krumer in der Pflicht, obwohl er lieber noch etwas damit gewartet hätte, mehr Zeit gebraucht hätte, um sich auf diese Aufgabe vorzubereiten, erzählt er. 20 bis 40 Familien zählten heute zur orthodoxen Gemeinde Rigas, so Rabbi Ilya Krumer. Sie sei wichtig, um den Juden in Lettland Orientierung zu geben. Die meisten Juden hätten aufgrund der Ansprüche des modernen Lebens keine Zeit und keine Motivation mehr, die jüdische Tradition zu leben, sagt er. Aber für die wenigen, die diesen Weg wählten, will er da sein.
„Es gibt viele Spenden und finanzielle Unterstützung für die Juden, die Balei Tschuwa machen, die zur Thora zurückkehren wollen. Aber wenn sie sich dann dafür entscheiden, dann kümmert sich keiner mehr um sie,“ sagt Krumer. Das sei ein großes Problem. „Um die Thora zu studieren, kannst du dich nicht in eine Ecke in deinem Haus verkriechen. Du brauchst einen Platz, um die Thora zu studieren, einen Menschen mit dem du zusammen studierst und eine Infrastruktur, die einen Alltag nach jüdischen Regeln ermöglicht“, zählt Krumer auf. Er unterrichtet im Moment fünf bis acht Stunden pro Tag zwischen 15-20 Thorastudenten, im Alter von 30 bis 50 Jahre alt sind. Es gibt auch Jüngere, aber die haben weniger Zeit dafür. Balei Tschuwa ist eine Bewegung unter den Juden in aller Welt. Sie heißt etwa „Meister des rechten Weges“ und steht dafür, wenn sich säkulare Juden wieder der Thora, der „Bibel“ der Juden zuwenden-Sie kehren zurück zu den traditionellen Sitten und Riten, studieren die Thora und richten ihren Alltag nach deren Geboten aus.
Die meisten Juden in Riga stammen aus der Zeit, als Lettland zu der Sowjetunion gehörte, das war von 1945 – 1991 der Fall. Damals kamen viel aus der Sowjetunion nach Lettland, weil sie hier ihr Judentum etwas freier leben konnten. Die Familie von Rabbi Elya Krumer stammt aus Lettland. Seine Großeltern waren während der Nazizeit nach Usbekistan und Kasachstan geflohen und kehrten 1945 wieder zurück nach Lettland. Die jüdische Gemeinschaft in Lettland besteht fast ausschließlich aus Juden, die Russisch und nicht ursprünglich Lettisch sprechen. Auch seine Familie hätte entweder Jiddisch oder Russisch gesprochen, sagt Krumer. „Es gibt diese Gruppe von Lettisch sprechenden Juden in Lettland nicht.“
Von den rund 70.000 Juden, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Lettland lebten, sind bis auf ein paar Tausend alle ermordet worden. Die höchste Zahl von Juden der Nachkriegszeit hatte Lettland in den 1980er Jahren mit rund 30.000 Menschen. Doch viele sind nach Israel oder Westeuropa ausgewandert, was den Gemeinden schwer zu schaffen machte. Aber Krumer hat dafür Verständnis. „Es gab dieses Fenster der Gelegenheit und da haben viele zugegriffen. Es war Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre ja nicht klar, wie es mit Lettlands Unabhängigkeit und dem jüdischen Leben hier weitergeht.“
Seit 1991 ist Lettland ein eigener Staat, nachdem es 1918 erstmalig seine Unabhängigkeit ausgerufen hat. Die Zukunft der Juden in Lettland sei trotzdem nicht rosig. Nicht wegen einer Bedrohung von außen, sondern weil sie zahlenmäßig so wenige sind, meint der Rabbi aus Riga. Antisemitische Übergriffe habe es in den letzten Jahren nicht gegeben, sagt er. Das liege auch daran, weil es so gut wie keine muslimischen Einwanderer gebe. Und die Letten? Sie seien zwar von Haus aus xenophobisch, aber die Vertreter der lettischen Regierung bemühten sich um einen guten Kontakt zur jüdischen Gemeinschaft.
Heute gibt es in Riga drei jüdische Kindergärten und zwei jüdische Schulen. Zwei Kindergärten und eine Schule betreiben die Lubawitscher Chassiden. „Sie haben viel Einfluss und ziehen mehr säkulare Juden an als wir“, sagt Krumer. Er sieht diesen Einfluss kritisch, denn innerhalb der jüdischen Gemeinschaft konkurriert die orthodoxe Gemeinde, der er vorsteht, mit der Chabad Gemeinde, wie die Lubawitscher Chassiden auch heißen, um Anhänger. Die Chabad Gemeinde ist eine orthodoxe Gruppierung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die weltweit ihre Anhänger haben. Die Chabad Gemeinde habe gute finanzielle Beziehungen ins Ausland, sagt Krumel. „Sie haben, was das Budget betrifft, 95 Prozent und wir 5 Prozent.“ Letzten Endes könne er nicht mehr tun, als eine Alternative zu den Chassidim anzubieten. Er möchte den Juden ermöglichen, nach der Thora zu leben, „so wie es unsere Vorfahren vor 3000 Jahren gemacht haben.“ Dafür arbeitet er im Moment für drei, wie er sagt, und könne doch nicht alle Aufgaben bewältigen. Doch seine größte Herausforderung liege noch vor ihm. „Das ist mein erstes Pessach-Fest als Rabbi unserer Gemeinde im April 2019.“ Für eine Bilanz sei es daher noch zu früh: „Warten wir ab, bis ich mein erstes Jahr überstanden habe.“